Sufismus, der innere Weg des Islam

Der Sufismus (arabisch: tasawwuf) wird allgemein als die mystische Dimension des Islam bezeichnet. Für die Sufis selbst ist er die vollständige Religion, die Verwirklichung der Hingabe an Gott, die Erfahrung der Liebe im Herzen. Der Begriff Sufismus leitet sich von dem Wort rein (safa) ab. Zu der islamischen Lebensweise praktizieren die Sufischüler zusätzliche Übungen und Gebete, die der Reinigung des Herzens und der Heranbildung des feinen Charakters (adab) dienen. Sicherheit und Klarheit auf dem Weg (tariqa) wird durch die liebevolle Führung des Scheichs (geistig-spiritueller Lehrer) gewährleistet. Der Sufischüler erfährt so Herausforderungen und Wachstum im rechten Maß, zur rechten Zeit.

Der Sufismus beginnt mit dem Propheten Muhammad saws*. Die Liebe und Verbundenheit zu Muhammad saws* und seiner Familie sind daher die Grundlage des Sufiweges, die ein tiefes Geheimnis in sich birgt. Die frühe Zeit des Sufismus ist geprägt von Persönlichkeiten wie Junaid, Rabbia, Ibn Arabi und anderen. Ab dem 12. Jahrhundert bildeten sich Sufiorden (turuq), von denen viele bis heute lebendig sind. Gemeinsam ist allen Sufis die zentrale Praxis des dhikr (Gotteserinnerung). dhikr kann sowohl einzeln in stiller Meditation als auch gemeinsam in der Hadra durchgeführt werden. Der dhikr öffnet das Herz für die Liebe und Gotteserfahrung.

*saws oder auch (s) steht als Abkürzung für salla-allahu alaihi wa sallim. Dies ist ein Segensgruß für den Propheten Muhammad (s).


Sufismus und Islam

Wie ist das Verhältnis von Islam und Sufismus?

Der Sufismus ist das Herz der islamischen Offenbarung. Islam und Sufismus sind unzertrennbar miteinander verbunden wie die Speichen und die Nabe in einem Rad. Der Islam, die äußere (exoterische) Seite der Religion, ist das Rad, der Sufismus die Nabe, um die sich das Rad dreht. Die Speichen, die vom Rad zur Nabe führen, sind die verschiedenen Wege (arabisch: tariqa, pl. turuq), auf denen sich den Suchenden die innere Wirklichkeit der Religion erschließt (siehe auch Stufen der Religion).

Gibt es im Qur'an Hinweise auf den Sufismus?

Im Koran gibt es viele Verse, die darauf hinweisen und tiefes, inneres Wissen vermitteln. Zahlreiche Kommentare und Anhandlungen großer Sufimeister beschäftigen sich mit diesen verborgenen Schätzen. Sehr häufig spielt der Koran auch auf den dhikr (Gottesgedenken) an, die zentrale Praxis der Sufis. Z.B. in folgenden Versen (ungefähre Übersetzung):

  • "Und gedenke deines Herrn in Deinem Herzen in Demut und Furcht, ohne laut vernehmbare Worte am Morgen und am Abend." (Sure 7, Vers 205)
  • "Wahrlich, das Gebet hält einem von schlechten Taten ab, und Gotteserinnern ist das Höchste." (Sure 29, Vers 45)

  • Sufiorden

    Was ist ein Sufiorden?

    Sufiorden sind Gemeinschaften, deren Mitglieder einen bestimmten geistg-spirituellen Weg unter der Führung eines Lehrers, eines Scheichs, gehen. Sie leben weder im Zölibat noch in Klöstern, sondern praktizieren diesen Weg ganz normal im Alltag. Die Ordensgemeinschaften verfolgen verschiedene Methoden auf dem einen Weg zu Allah, der Reinigung der Seele. Allen gemeinsam ist die islamische Lebensweise, die Liebe zum Propheten und die Praxis des dhikr (Gottesgedenken).

    Seit wann gibt es Sufiorden?

    Der Sufismus besteht seit der Zeit des Propheten Muhammad (s), die Orden entwickelten sich jedoch erst im 12. Und 13. Jahrhundert. Wichtige Ordensgründer waren Sayyidi Ahmad ar-Rifai, Sayyidi Ahmad al Badawwi, Sayyidi Abdu- Qadir al Jilani und Sayyidi Ibrahim al Qurashi ad-Disuqi. Aus den Stammorden haben sich viele Zweige gebildet, von denen viele heute noch lebendig sind.

    Wozu verpflichtet sich ein Mitglied eines Sufiordens?

    Wesentlich ist, dass der Schüler den Scheich durch einnen inneren Entschluß und mit einer äußeren Erklärung als seinen Lehrer annimmt. Alle anderen Verpflichtungen folgen daraus und stehen immer in der eigenen Verantwortung und Freiwilligkeit des Schülers.


    Meister und Schüler

    Wie ist das Verhältnis von Meister und Schüler?

    Die Beziehung des Schülers zum Scheich ist wie die eines Lehrlings zu seinem Meister, sie sollte von Gehorsam und Hingabe geprägt sein. Auch wer ein Handwerk lernen will, muss tun, was der Meister ihm sagt, selbst wenn die Aufgabe ihm zunächst unsinnig scheint; und er muss darauf vertrauen, dass sie sich noch als sinnvoll erweisen wird. Tut er es nicht, geschieht weiter nichts, als dass der Lehrling eben nichts lernt. Die Verankerung des Scheichs im Islam und seinen Gesetzen dient dem Schüler als Schutz.

    Wozu braucht man einen Meister?

    Wer einen inneren Weg konsequent geht, benötigt einen Lehrer, der ihn sicher durch die Höhen und Teifen inneren Erlebens führt, der ihn liebevoll ermuntert und ihm zur richtigen Zeit die richtigen Erfahrungen vermittelt.

    Wer wird Sufi-Scheich?

    Die Führung einer Tariqa wird traditionell vom lebenden Scheich an seinen Nachfolger weitergegeben. So entsteht die Silsila, die Kette der Scheichs, die in jedem klassischen Orden bis zum Propheten Muhammad (s) zurückreicht.


    Praxis des Sufismus

    Was muß ein Sufischüler tun?

    Der Sufischüler und die Sufischülerin legen besonderen Wert auf den inneren Aspekt des Islam, den sie in ihrem Leben zu verwirklichen suchen. Dazu gehört vor allem die Liebe zum Propheten Muhammad (s) und zu seiner Familie. Bei ihrem Eintritt in den Orden werden ihnen bestimmte, für ihre Tariqa spezifische Übungen und Gebete gegeben, die sie nach eigener Verantwortung ausführen. Zentrale Übung ist das Gottgedenken (dhikr). Auf seinem inneren Weg durchwandert der Sufischüler verschiedene Zustände und Stadien, Prozesse der Selbsterfahrung und Gottesnähe gemäß der heiligen Überlieferung "Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn".

    Wie vereinbart man Sufismus mit dem westlichen Alltag?

    Gut und relativ einfach. Der Sufismus betrachtet das tägliche Leben als Herausforderung an die Entwicklung des Herzens und der Seele. Der Schüler strebt danach, Gott in allem wohlgefällig zu sein und Ihn in allen Aspekten Seiner Schöpfung zu erkennen und zu ehren - im Umgang mit Menschen, mit der Natur, im Beruf und in der Familie. Da die meisten Orden, die sich im Westen verbreiten, die Integration in die Gesellschaft anstreben, fallen ihre Mitglieder weder durch besondere Kleidung oder besonderes Verhalten auf.

    Kann ich Sufismus allein praktizieren?

    Die Übungen der einzelnen Orden sind auf bestimmte geistig-spirituelle Ziele und innere Erfahrungen abgestimmt. Manche dieser Übungen können auch von "Laien" durchgeführt werden und können ihnen ein Stück auf ihrem persönlichen Weg weiterhelfen. Eine Praxis ohne die spirituelle Führung und den Schutz eines Scheichs ist nicht empfehlenswert und kann sich unter Umständen schädlich auswirken. Die Realität des Sufismus ist wie ein Hochgebirge, das man ohne einen Führer kaum unbeschadet durchqueren wird.

    Wozu brauchen wir die Gemeinschaft?

    Im Islam und im Sufismus spielt die Gemeinschaft (umma) eine große Rolle. Sie bietet Nähe und Geborgenheit, Halt und Unterstützung in kritischen Phasen, und sie ermöglicht soziales Lernen, das gleichzeitig dem Einzelnen bei der "Reinigung des Herzens" und Verfeinerung seines Charakters hilft. So bemüht sich z.B. der Sufischüler - gemäß der Überlieferung "Der Gläubige ist der Spiegel des Gläubigen" - den Fehler, den er am anderen bemerkt, in sich selbst zu korrigieren.


    Mann und Frau

    Welche Rolle spielt die Frau im Sufismus ?

    In der Geschichte des Sufismus gab es viele weibliche Heilige, die auch Männer unterrichtet haben. Die berühmteste von ihnen ist Rabi'a von Basra, die öfters mit der Heiligen Teresa von Avila verglichen worden ist. Der große Sufischeich Muhyiddin Ibn al Arabi berichtet von zwei Frauen, bei denen er Unterweisungen erfuhr und die zu ihrer Zeit höchste Verehrung erfuhren. Die Liebe des Mannes zur Frau ist in der Sufilyrik oft Gleichnis für die Liebe des Menschen zu Gott, wie in der berühmten Liebesgeschichte von Leila und Majnun.

    Gibt es Frauen in den Sufiorden?

    Ja, vor allem in den Orden, die sich im Westen ausbreiten. In füheren Jahrhunderten traten Frauen, die Mitglieder eines Sufiordens waren, in den islamischen Ländern vielfach öffentlich nicht in Erscheinung. Das ist heute jedoch anders. Die Tariqa Burhaniya hat in vielen islamischen Ländern weibliche Mitglieder, in Deutschland z.B. sind etwa die Hälfte der Mitglieder Frauen.


    Der Weg zum Weg

    Wie wird man Sufischüler?

    Der äußere Weg besteht darin, dass man einen Orden und einen Scheich findet und seine Zugehörigkeit erklärt. Die inneren Wege dorthin sind so verschieden wie die Menschen, die sie gehen. Manche suchen gezielt und bewusst, andere kommen auf den Weg durch Träume, manche werden durch seltsame Zufälle und Fügungen geleitet. Sufismus ist "Schmecken der Wahrheit", wie es in vielen Sufigedichten heißt. Bei den einen kommt diese Erfahrung blitzartig, bei den anderen ist sie Ergebnis einer langen Entwicklung.

    Wie findet man einen Lehrer?

    In unserer Tradition heißt es, dass der Meister den Schüler sucht, nicht umgekehrt. Daher berichten viele Sufischüler von Träumen, in denen sie einen deutlichen Ruf wahrnahmen. Die äußere Suche des Schülers kann oft verwirrend sein, zumal es auch Lehrer gibt, die für bestimmte Zeiten und Gelegenheiten nützlich sind und Sehnsüchte befriedigen können. Die Einbindung des Lehrers in den Islam und die Beachtung seiner Gesetze sind daher eine wichtige Richtschnur für den Einzelnen, ebenso wie Nüchternheit und Geduld bei der Suche.